Reiter-Kurier November 2019

9 November 2019 | Kommt es mir nur so vor, oder hat das die Reiterwelt vergessen? Das glaube ich nicht. Für mich gibt es drei Ebenen. Die emotionale Ebene, die ich als die wichtigste ansehe, ist, dass man sein Pferd liebt. Dann die Ebene, dass man sein Pferd spürt. Und die dritte Ebene ist die, dass man in der Lage ist, technisch zu wissen, wie man es unterstützen kann. Diese drei Kom- ponenten, die sich gegenseitig beeinflus- sen, muss man zusammensetzen. Wie vermittelst du nachhaltiges Reiten? Einerseits möchte ich meinen Schülern eine Idee geben, wozu ihre Pferde in der Lage sind und wo der Reiter am besten ansetzen kann, um sein Pferd erfolg- reich zu fördern. Es ist wichtig zu erken- nen, wo es seine Stärken und Schwächen im Körper hat, um auf dem starken Körperteil die weitere gymnastizierende Arbeit aufzubauen. Mein Ansatz ist es, über die guten Körperteile die schlech- ten Körperteile zu arbeiten. Dafür ist es wichtig, den Blick schulen und Zusam- menhänge zu erschließen, um Ursachen von Schwierigkeiten zu erkennen und dem Pferd an der richtigen Stelle mit der richtigen Übung oder Lektion zu helfen. Außerdem kommen hier auch wieder die drei Ebenen ins Spiel. Wenn einem Schüler eine der Ebenen schwerfällt, dann setze ich hier an und versuche ihn zu unterstützen. Am Ende sollten beide Freude gehabt haben und langfristig sollte man dies auch an der Muskulatur von Pferd und Reiter sehen können. Auf der Americana hast du imShowring erklärt, wie wichtig es ist, das innere Hinterbein unter die Bauchmitte treten zu lassen. Warum? Ich glaub die meisten denken, dass das das einzige ist, was ich mache. Es ist für mich aber nur der erste Zugang, um zu sehen, wozu das Pferd körperlich und psychisch in der Lage ist. Die Fähigkeit, unter die Bauchmit- te zu treten und dort seinen Stand zu finden, bedeutet, dass das Pferd in die natürliche Biegung finden kann. Dies beruhigt das Pferd und senkt den Herzschlag. Mir ist wichtig, darauf meine Arbeit aufzubauen. Auf der natürlichen Biegung, die im inneren Hinterbein seinen Ursprung hat. Ziel ist für mich, das Pferd in maximaler Ruhe und gleichzeitig in maximaler Kraft zu reiten und dabei eine feine innere Verbindung zum Pferd zu erhalten. Beginnen möchte ich aber immer mit der maximalen Ruhe, wes- halb ich immer zuerst das biegende Bein brauche, bevor ich einen Schritt weitergehe. Warum reitest du gebisslos? Ich persönlich finde es sehr anspruchs- voll, fein genug mit Gebiss zu reiten. Wenn die Trense auf die Zunge drückt und das Pferd diese nach hinten schiebt, wird eine Anspannung imUnterhalsmus- kel ausgelöst, die Stress imPferd erzeugt. Dies möchte ich vermeiden. Aber auch die Bosals müssen weich sein, umdem Pferd zu erlauben, ein adäquates Maß an Aufrichtung in Relation zu denHanken zu suchen. Ich persönlich habe mir auf die Fahnen geschrieben, herauszufinden, inwieweit es in der Reiterei möglich ist, ohne Gebiss, aber dennoch gymnastizie- rend und in einemhohen Niveau arbeiten zu können. Mit Gebiss würdest du aber bei manchen Lektionen schneller ans Ziel kommen? Das glaube ich nicht. Aber ich denke, dass das Gebiss manchmal dazu ver- leiten kann, schneller zum Erfolg zu kommen. Ein Beispiel wäre zumThema Aufrichtung, dass ich mit Bosal im Schulterherein reite, bis das Pferd für sich den höchsten Punkt der Aufrich- tung gefunden hat. In diesemMoment wechsle ich ins Konterschulterher- ein, um das Gleiche zu wiederholen. Irgendwann stell ich es gerade und die Aufrichtung bleibt erhalten, lediglich herbeigeführt durch die Lektion und das richtige Timing in die Konterlektion zu wechseln. Ich finde es spannend in den nächsten Jahren herauszufinden, wie weit ich auf diesemWeg komme. Hört sich nach viel Geduld an. Ja, das stimmt. Aber das ist auch gut so. Ich bin überzeugt davon, dass Pferde uns Menschen besser machen. Unsere Wahrnehmung wird sensibilisiert, wir beobachten mehr. Das sind wir der nächsten Generation schuldig. Pferde können uns mit in eine andere Ebene nehmen, wenn wir es nur zulassen. Genau das ist meine Motivation, mein Wissen weiterzugeben. Wir müssen zei- gen, was aus einem Reiter werden kann, wenn er nachhaltig reitet: Ein geduldi- ger, ruhiger und empathischer Mensch, der dazu in der Lage ist, sich und andere zu spüren und zu beobachten, sowie Dinge exakt anzugehen. Der höflich, nachsichtig und wertschätzend ist. Das ist wichtig für unsere Gesellschaft. Ich bin mir sicher, dass da die Entwicklung hingeht, es braucht nur seine Zeit. www.matthiasl.de Interview und Fotos von Judith Schmidhuber

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